Der blaue Hausschuh

Gerade als ich dabei war, das Geld von der Bank, die ich gerade zusammen mit fünf Bankräuberkomplizen ausgeraubt hatte, im nächsten Wald verschwinden zu lassen, wurde ich geweckt. Nicht von meinem Wecker. Der hätte mich nämlich noch spannende zwei Stunden weiterträumen lassen. Stattdessen blickte ich zuerst in das faltige, stoppelige Gesicht meines Ehemannes.

„Was ist denn los, Hermann?“, sagte ich mit verschlafener Stimme, während ich mir die Augen rieb. Sein Blick war unsicher, seine Stimme zitternd: „Ich dachte, du musst jetzt aufstehen und zur Arbeit.“ Ich liess einen genervten Seufzer aus und gab Hermann meinen Wecker, während ich erklärte, dass ich wie immer erst um sieben aufstehen müsse. Jeden Morgen erkläre ich ihm dasselbe. Und jedes Mal legt er darauf denselben ungläubigen Gesichtsausdruck auf und streitet sich mit mir. Ich bleibe aber gelassen, sofern das in meinem Zustand noch geht. Ich weiss, dass er nichts dafür kann.

Nachdem ich ihm mal wieder meinen gesamten Tagesablauf erzählt hatte, stand ich auf und lief in die Küche, um Frühstück zu machen. „Vergiss nicht dich heute zu rasieren, Schatz. Gestern hattest du es vergessen“, rief ich als ich gerade ein Ei in die Pfanne goss. Kurz darauf hörte ich die Badezimmertür und kochte zufrieden weiter.

Kaum hatte ich das Frühstück fertig, zuckte ich vor einem Schrei zusammen. Ich ahnte das Schlimmste und rannte zum Badezimmer. Klopfend fragte ich: „Hermann, alles in Ordnung? Was ist passiert?“ Doch ich hörte nur unverständliches Gemurmel, also öffnete ich die Tür. Vor mir sass Hermann auf dem Boden, in der einen Hand den Rasierer, in der anderen hielt er einen seiner Hausschuhe. Sein Gesicht war mit Rasierschaum bedeckt. Als ich sah, dass er keine Verletzung hatte, war ich erleichtert. Ich kniete zu ihm hin.

„Was ist denn, Hermann? Wieso hast du geschrien?“, fragte ich, während ich ihm den Rasierer aus der Hand nahm. Er streckte mir seinen Hausschuh hin. „Er ist blau! Mein Hausschuh ist blau!“ Ich nahm ihm auch den Hausschuh ab und steckte ihn wieder an seinen Fuss. „Er war schon immer blau, Hermann. Genau wie der andere auch“, sagte ich mit ruhiger Stimme. Ich erkannte Verzweiflung in seinem Blick. Ein Schmerz durchfuhr mich. Hermann starrte auf seine Füsse. „Ich verstehe das nicht. Ich hatte andere Schuhe. Andere“, sagte er und geriet danach wieder in ein Murmeln.

„Komm, Hermann. Ich helfe dir auf und danach rasiere ich dich. Soll ich dich heute zu deiner Therapie fahren?“, sagte ich, während ich aufstand und ihm aufhalf. Die Frage war reine Höflichkeit, denn ich wusste, dass ich ihn von nun an jeden Tag fahren musste. Hermann setzte sich auf einen Hocker, der im Bad stand und ich rasierte ihn. Danach würden wir gemeinsam frühstücken und nachdem wir uns angezogen hätten, würde ich Hermann zu seiner Gedächtnistherapie fahren. Dort würde ich der Schwester erzählen müssen, dass es schlimmer geworden ist. Sie würde mir dann erklären, dass Hermann nicht mehr lange bei mir wohnen kann.

Ich fühlte, wie mir eine Träne über die Wange rann, als ich gerade meine Tasche packte. Ich verwischte sie schnell. Als Hermann und ich schliesslich im Auto sassen, fuhr ich los.

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