Das Castello "De Rosa" - Teil 1

Meine Heimat liegt weit unten im Süden Siziliens. In einem kleinen Dorf namens Tizzorente bin ich geboren und aufgewachsen. Ich bin der Sohn des Bauers Gregorio Zanchetti und wurde nach meinem Urgrossvater Lorenzo benannt. Er war es, der zu seiner Zeit den Bauernhof errichtet hatte und mein Grossvater hat den Bauernhof weitergeführt, wie es jetzt mein Vater macht. Auch ich werde eines Tages den Bauernhof übernehmen. Doch bis es so weit ist, verbringe ich meine Zeit am liebsten mit Dichten. Mein Grossvater hatte mir, als ich klein war, seine Gedichte gezeigt, die er an meine Grossmutter geschrieben hatte. 

Mein bester Freund, Archibaldo Cicala, unterstützt mich in diesem ausser- gewöhnlichen Hobby. Ich kenne ihn schon mein Leben lang und habe auch schon manchen Unsinn mit ihm getrieben. Archibaldo hat sich immer für mich eingesetzt, so wie ich ihn aus allen möglichen misslichen Lagen herausgeholt habe. Wahre Freundschaft also. Wie viele Stunden habe ich dagesessen und nach einem Wort gesucht! Archibaldo setzte sich neben mich und suchte mit mir. So habe ich auch oft über unsere Freundschaft gedichtet: 


Ein Freund zu sein heisst… den Weg gemeinsam gehn. 

Durch tiefe, dunkle, schlamm’ge Sümpfe waten, 

Und über hohe, schroffe, kant’ge Berge ziehn. 

Zusammen einen Weg ins Ungewisse wagen, 

Dem Freund in jeder Lag zur Seite stehn. 


Wir kennen uns ja erst… ein kurzes Leben lang. 

Der lange Weg ist kaum zur Hälfte durch. 

Doch war uns nicht vor Schluchten, nicht vor Bergen bang. 

Du halfst mir schon durch jede grosse Furcht. 

Wofür ich dir nur danken kann. 


Aber ich habe nicht nur den treuesten Freund, den man sich wünschen kann, sondern auch das Mädchen meiner Träume. Meine geliebte Aniella Favelli lernte ich bereits in frühen Jahren kennen, als ich meinen Vater zum Wochenmarkt ins Dorf begleitete. Ich hatte natürlich nur Flausen im Kopf, und ehe wir beim Markt angekommen waren, war ich auch schon in der Menschenmenge verschwunden. Ich erkundete die Stände, Obst, Gemüse, Fleisch und Wein, aber auch die Menschen, die diese köstlichen Waren anboten. Und gerade als ich bei einem Obststand vorbeigehen wollte, stand dieses junge blondgelockte Mädchen vor mir und streckte mir einen Apfel entgegen. Es war natürlich meine Aniella und ich verliebte mich gleich in ihre meerblauen Augen, die im Licht der Sonne wie magische Kristalle funkelten. Auch sie verliebte sich gleich in mich und so waren wir seit diesem Tag niemals mehr getrennt. 

Bald stellte Aniella mir auch ihre Freunde aus dem Nachbarsdorf Marzemi vor. Sie hiessen Angelica Falcone und Mario Sivori. Wir alle freundeten uns schnell an und verbrachten bald jeden Tag gemeinsam in unserer kleinen Gruppe. Anfangs verbrachten wir unsere Zeit am liebsten bei den Schafherden. Wir neckten die Tiere, spielten den Hirten Streiche oder spielten im Gras. Als wir alle zu jungen Erwachsenen wurden, vergassen wir die friedlichen Tage bei den Herden immer mehr und fingen an, uns jeden Abend in der Dorftaverne zu treffen, wo wir plauderten und lachten.  

Eines Tages kam ein fremder Mann in unser Dorf, er war kaum 20 Jahre alt. Ich begrüsste ihn und er stellte sich als Vito de Rossi vor. Ein einzigartiger Mann. Mit nur 16 Jahren verliess er sein Heimatdorf weit im Osten Siziliens und begann herumzuwandern. Er erzählte mir von seinen Reisen und ich war fasziniert von dieser Welt, die er mir beschrieb. Bald lernten auch meine Freunde und meine geliebte Aniella den fremden Reisenden kennen. Als wir uns dann in unsere Dorftaverne setzten, erzählte er uns von Palermo. Er schwärmte von diesem Ort. Die Leute waren stets in Feierlaune, nie schlief diese Stadt. Es gab unzählige Attraktionen, seltsame Menschen, lustige Menschen und solche, die den lieben langen Tag nur an einer Hausecke sassen und umherstarrten. Fasziniert und inspiriert von Vitos Erzählungen, dichtete ich noch am selben Abend dieses kleine Gedicht: 


Einst war die Heimat mir ganz gross, 

war ja fast dem Universum gleich. 

Wie winzig ist der Ort nun bloss, 

die Grenze dieser Welt verbleicht… 


Welche Länder, welche Pfade 

verstecken sich im Horizont? 

Wie dacht ich nur, die Welt sei grade? 

Wie glaubt ich bloss an eine Front? 


Mein Geist ist wie im hell Erwachen 

Stellt sich Fragen, fragt sich Sachen 

Und fragt und fragt mit einer Gier 

Was findet sich dort… weit weg von hier? 


Seit diesem Tag ging mir diese Stadt nicht mehr aus dem Kopf. Ich schwärmte mit Aniella zusammen von einer Reise nach Palermo, wie wir dort Neues sehen könnten und wie wir danach die Welt bereisen könnten. Wir kannten nicht viel von der Welt. Meine Familie besass zwar einen Computer, wir hatten aber keinen Internetempfang und nutzten das Gerät auch nur, um die Buchhaltung zu machen. In unserem Dorf war es üblich, dass jeder Haushalt ein Familienhandy besass. Einige Familien, die ein etwas grösseres Vermögen hatten, konnten sich sogar einen Fernseher leisten. Die restlichen Dorfbewohner schauten in der Dorftaverne die WM und – sofern es etwas noch Wichtigeres gab – ab und zu die Nachrichten. Und das war es auch schon mit dem sogenannten Fortschritt. 

Bisher war Tizzorente meine ganze Welt. Und Aniella war der Mittelpunkt darin. Jetzt aber löcherte ich Vito jeden Abend nach seinen Geschichten, hörte ihm stundenlang zu und freundete mich sehr schnell mit ihm an. Und eines Tages meinte er dann: „Lorenzo, wenn du doch so fasziniert bist von Palermo, warum unternehmen wir dann keine Reise dorthin?“ 

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