Das Castello "De Rosa" - Teil 2

Und so kamen wir zu der Entscheidung, dass wir alle – Aniella, Archibaldo, Vito, Mario, Angelica und ich – diesen Sommer nach Palermo reisen würden. Also sparten wir alle, machten kleinere Nebenjobs und sammelten so das Geld, das wir für Palermo brauchten. Unsere Familien waren hellauf begeistert und unterstützen uns, indem sie jedem von uns das Familienhandy zusteckten und uns Proviant für die Reise mitgaben. Wir hatten uns dazu entschieden auf Landstrassen zu fahren, um Sizilien kennenzulernen. 

Archibaldo fuhr seinen kleinen, rostigen Laster vor. Der Wagen stöhnte, als er zum Stillstand kam. Es war ein wirklich alter Wagen. Sein ursprünglich hellblauer Lack war bereits überall abgeblättert, nur an wenigen Stellen sah man neben dem rostbraunen Metall einen kleinen himmelblauen Schimmer. Wir nahmen diesen Wagen, weil es der einzige war, in welchem alle sechs Personen Platz fanden. Ausserdem hatten wir in diesem Wagen auch genügend Platz, um den Proviant zu verstauen. 

Als ich auch die letzte Tasche unter den Sitzen verstaut hatte, war es an der Zeit, Abschied von meiner Familie zu nehmen. Auch meine Freunde hatten sich zu ihren Familien gesellt und umarmten sie, als würden sie für immer fortgehen. Meine Eltern waren stolz, dass ich selbstständig auf eine Reise ging, waren aber auch betrübt, mich nun gehen zu lassen. Ich umarmte sie für eine kleine Ewigkeit, denn auch mir fiel es nicht leicht, meine Familie und den Ort, den ich so gut kannte wie mich selbst, hinter mir zu lassen. Als meine Freunde in den Wagen stiegen, löste ich mich aus den Armen meiner Eltern und stieg ebenfalls ein. Ich setzte mich natürlich neben meine Aniella und wir hielten uns an den Händen. Der Motor brummte auf und der Wagen fuhr hustend los. Wir schauten alle durch das Fenster dem immer kleiner werdenden Tizzorente nach, bis es schliesslich hinter einem Hügel verschwand. Nun hatten wir uns auf eine Reise begeben. Eine Reise in eine Welt, die wir alle nicht kannten. 

Ich schaute verträumt aus dem Fenster und sah die blühenden Wiesen an mir vorbeiziehen, auf denen manchmal lockere Haufen von kleinen, weissen Punkten zu erkennen waren. Ich erinnerte mich wieder an meine Kindheitstage und mir fiel auf, wie sehr sich unsere Gruppe seither verändert hatte. 

Aniella war zu einer wunderschönen und reifen jungen Frau geworden. Wenn ich sie nun anschaute, strahlte sie eine selbstsichere Ruhe aus und das gab mir die Gewissheit, dass sie die Frau meines Lebens war. Ich wusste nicht, wie sie zu dieser Standhaftigkeit gekommen war. Möglicherweise hatte es damit zu tun, dass sie Angelica vor einigen Jahren bei sich aufgenommen hatte. Angelica hatte zu dieser Zeit eine grosse Veränderung durchgemacht. Aus einem fröhlichen, hilfsbereiten Mädchen wurde eine stille und nachdenkliche Frau. Nur Aniella wusste, was damals passiert war. 

Aber nicht nur die Mädchen hatten sich in unserer Gruppe verändert. Auch Mario wurde seit einiger Zeit immer stiller und fing sogar an mir eine gewisse Feindseligkeit entgegenzubringen. Oft beobachtete ich ihn auch dabei, wie er Aniella anstarrte. Stundenlang! Und so entwickelte auch ich einen Zorn gegen ihn.  

Der Einzige, der sich nie geändert hatte, war Archibaldo. Er hatte schon immer für Frieden in der Gruppe gesorgt und tat es noch immer. Und gerade jetzt schaltete er das Radio an, um eine lockere Stimmung zu schaffen. Aber es erklang ein trauriges Lied, das uns alle etwas bedrückte: 


Ein letztes Mal nur… möcht ich bei dir sein 

Ein letzter Kuss… bevor du von mir gehst 

Wir wollten ewig zwei sein, nun sind wir allein. 

Du hast’s mir nie erzählt, wie du die Welt hier siehst. 


Könnt ich die Zeit zurückdrehn, 

Ich würde zu dir rennen, 

An deiner Seite stehn, 

Mit dir vom Abgrund springen. 


Ein letztes Mal nur… möcht ich bei dir sein 

Ein letzter Kuss… bevor du von mir gehst 

Wir wollten ewig zwei sein, nun sind wir allein. 

Du hast’s mir nie erzählt, wie du die Welt hier siehst. 


Ich vermisse deine Stimme, 

Diesen klaren Klang, wenn du lachst. 

Sag, bist du glücklich? Da – im Himmel? 

Als Engel, der du hier schon warst? 


Ein letztes Mal nur… möcht ich bei dir sein 

Ein letzter Kuss… bevor du von mir gehst 

Wir wollten ewig zwei sein, nun sind wir allein. 

Du hast’s mir nie erzählt, wie du die Welt hier siehst. 


Und dann begann Angelica zu erzählen: 

„Dieses Lied erinnert mich an meinen verstorbenen Geliebten, den ich vor wenigen Jahren verloren habe.“ Wir alle wussten, wovon sie sprach. Es war der Grund, warum sie vor rund fünf Jahren aus dem Nachbarsdorf Marzemi zu uns gezogen war. Wir wussten, dass sie jemanden verloren hatte, aber bisher hatte sie uns noch nie die ganze Geschichte erzählt.  

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