Das Castello "De Rosa" - Teil 3

„Ich traf Michele an einem Morgen im Dorf. Mein Bruder Tommaso hatte mich losgeschickt, damit ich einige Besorgungen erledigte. Ich ging gerade aus der Bäckerei hinaus, als dieser junge, hochgewachsene Mann in mich hineinlief. Vor Schreck liess ich den Brotbeutel fallen und er bückte sich gleich danach und reichte ihn mir, während er sich für sein Ungeschick entschuldigte. Ich sah ihm in die Augen und es war Liebe auf den ersten Blick. Er stellte sich mir vor; seine Augen waren glasklar. Verlegen sagte ich ihm auch meinen  Namen und eilte dann weg. Mein Herz pochte wie wild und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich rannte nach Hause, obwohl ich erst die Hälfte meiner Erledigungen gemacht hatte, und verschloss mich in meinem Zimmer aus Angst, dass mein Bruder mir Fragen stellen würde. 

Ich fühlte mich albern. Wie ein Kind, das Verstecken spielt, aber vor lauter Freude lacht. Ich war bis zu jenem Tag noch nie verliebt gewesen. Es war ein völlig neues Gefühl: belebend, zehrend. Doch ich wusste, dass ich dieses Gefühl unterbinden musste. Mein Bruder vertrieb immer alle Männer aus meiner Nähe. Nur er könne für mich sorgen, sagte er immer, alle anderen seien nutzlose Tagträumer. Und wie ich an seine Worte dachte, so kamen mir die Tränen und ich sass dort, an meine Zimmertür lehnend, bis es dämmerte und Tommaso anklopfte. 

Ich wischte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht und liess ihn hinein. Er fragte mich, ob denn alles in Ordnung sei und warum ich nicht alles erledigt hätte. Er sah an meinen roten Augen, dass ich geweint hatte, und wollte wissen, was passiert sei. Ich gab zur Antwort, dass ich meinen Knöchel verstaucht hatte, wegen eines unglücklichen Zusammenpralls, und dass ich deswegen früher nach Hause gekommen sei. Er schaute mich einige Momente lang prüfend an, schaute sich dann aber meinen Knöchel an und holte einen Verband. Erst als ich mir den Knöchel selbst anschaute, merkte ich, dass er ganz blau war. Ich hatte den Schmerz gar nicht bemerkt, aber nun pochte er durch den ganzen Fuss. Nachdem Tommaso mir den Verband angelegt hatte und aus dem Zimmer gegangen war, fiel ich völlig erschöpft in mein Bett und schlief ein. 

Am nächsten Morgen weckte mich Tommaso, indem er mir ein Tablett mit dem Frühstück ans Bett brachte. Ich hatte eine unruhige Nacht. Immerzu musste ich an Michele denken, und was passieren würde, wenn Tommaso ihn zu Gesicht bekäme. Dieser sagte mir, dass er heute die Erledigungen machen würde und dass ich mich heute ausruhen solle. Als er gegangen war, schaute ich auf meinen Fuss. Er hatte wieder seine normale Farbe angenommen und ich versuchte nun darauf abzustehen. Es schmerzte kaum noch, also stand ich auf, zog mich um und fing dann an, den Haushalt zu machen. Gerade als ich vor dem Haus die Blumen goss, sah ich eine Gestalt auf das Haus zukommen. Es war Michele. 

Ich war so überrascht von seinem Anblick, dass mir die Giesskanne aus den Händen glitt und sich das Wasser auf dem ganzen Boden ausbreitete. Er kam auf mich zu und sagte mit einer unglaublichen Sanftheit in seiner Stimme, warum er gekommen war: ‚Bitte halte mich nicht für verrückt, Angelica. Aber seit dem gestrigen Tag konnte ich dich keine Sekunde lang vergessen. Deswegen habe ich einige Leute gefragt, wo ich dich finden könne, und hier bin ich nun. Ich weiss, dass wir uns kaum kennen, aber ich möchte dich gerne um eine Verabredung bitten.‘ Es schien mir wie ein Traum, der auf einmal real wurde. Anstatt ihm zu antworten, fiel ich ihm um den Hals und umarmte ihn. Auch er legte seine Arme um mich. Er war stark, doch seine Haut war ganz zart. 

Hand in Hand liefen wir dann auf einem kleinen Pfad durch die Felder der benachbarten Bauernhöfe. Es sprossen goldener Mais und sonnengelbe Rapsölpflanzen. Während wir die strahlende Sonne in uns aufsogen, lernten wir uns ein wenig näher kennen. Er erzählte mir von seiner Herkunft, dass er aus einer reichen Familie stammte, aber weggelaufen war, weil er das Unternehmen seines Vaters nicht übernehmen wollte. Nun lebte er in Marzemi und half regelmässig auf Fischerbooten aus. Ich war fasziniert von seiner Geschichte und wie er sie erzählte. Er war wie ein Prinz, wählte seine Worte vorsichtig und war überaus höflich und zurückhaltend. Da kam langsam in mir die Sorge auf, dass er von meiner Geschichte enttäuscht sein würde. Denn es war keine eindrückliche Geschichte. Ich war nur ein armes Bauernmädchen, um das sich ihr Bruder kümmerte, seitdem ihre Eltern gestorben waren.  

Ich blieb stehen, suchte nach Worten, fand sie nicht. Michele drehte sich zu mir und sah meinen besorgten Blick. Er sagte nichts, sondern nahm mich in den Arm. Ich löste mich leicht aus seinen Armen und sagte ihm: ‚Michele, warum hast du mich gewählt? Ich bin doch nicht mehr als ein armes Bauernmädchen…‘ Ich sah beschämt zu Boden, doch Michele blickte mir tief in die Augen uns sagte: ‚Es ist mir nicht wichtig, ob du vermögend bist. Ich sah gestern in diese wunderschönen, braunen Augen und habe mich in sie verliebt. Nun möchte ich herausfinden, welches zauberhafte Wesen zu ihnen gehört.‘ Und inmitten der goldenen Felder küssten wir uns zum ersten Mal.“

Angelica machte eine kleine Pause. Ich sah, wie ihr eine Träne von der Wange rollte. Aber sie verwischte sie schnell und erzählte dann weiter: 

„Wir hatten den ganzen Tag auf den Feldern verbracht und es war wohl der schönste Tag in meinem ganzen Leben. Ja, als der Mond aufging, sang er sogar ein Ständchen für mich: 


Schau mir in die Augen, Kleines 

Und sage mir, ich träume nicht 

Wenn ich dir dein feines, reines 

Händchen küss – im matten Mondes Licht 


S’ist mehr als Paradies mit dir 

Kein noch so kleines Ding fehlt mir 

Könnt ich auf ewig bei dir sein 

Im liebesnächtlich Mondenschein 


Danach schlenderten wir gemeinsam zum Dorf und wir sahen, dass ein Dorffest veranstaltet wurde. Michele zog mich mitten hinein, bis wir auf dem Dorfplatz standen. Musik spielte und Michele lud mich ein zu tanzen. Also tanzten wir. Wir tanzten den ganzen Abend lang. 

Und dann tauchte Tommaso auf. Ich erstarrte. Diesen Augenblick hatte ich gefürchtet und nun war er da. Als Tommaso uns erblickte, ging er geradewegs auf Michele zu und drohte ihm: ‚Lass die Finger von meiner Schwester oder du wirst es bereuen!‘ Doch Michele stellte sich ihm entgegen: ‚Dann bereu‘ ich es lieber, als dass ich mich noch einmal von ihr trenne!‘ Und Tommaso hob seine Faust. Ich konnte nicht hinsehen. Doch ehe einer zuschlagen konnte, hielten einige Dorfleute die beiden auseinander und versuchten sie zu beruhigen. Tommaso schnaufte vor Zorn, packte mich am Arm und schrie zu Michele: ‚Wenn du es wagst, noch einmal in ihre Nähe zu kommen, werde ich dich töten!‘ Dann zerrte er mich nach Hause. Als wir im Haus waren, warf er mich förmlich in mein Zimmer und schrie mich an: ‚Wie oft hatte ich dir gesagt, du sollst dich nicht mit solchen Taugenichtsen treffen! Du bleibst fürs Erste hier drinnen und lernst aus deinem Fehler.“ Er ging mit grossen Schritten aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Dann hörte ich, wie er die Tür verriegelte. Ich schluchzte und wimmerte die ganze Nacht durch. 

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