Das Castello "De Rosa" - Teil 4

Am nächsten Morgen war die Tür noch immer verriegelt. Erst gegen Mittag kam Tommaso wieder in mein Zimmer. Er war nun viel ruhiger geworden und sprach mit einem ernsten Ton: ‚Es tut mir leid, dass ich gestern so grob zu dir war. Aber ich musste dich endlich zur Vernunft bringen. Hast du dich etwas beruhigt?‘ Ich schaute ihn nicht an, sagte nichts. So sassen wir einige Minuten da und schwiegen uns an. Schliesslich stand Tommaso auf und ging aus dem Zimmer, während er sagte: ‚Naja, ich hoffe, du weisst, dass ich es zu deinem Besten gemacht habe. Ich bin vor dem Haus, wenn du mich suchst.‘  

Ich weiss nicht, wie lange ich in dieser steinernen Haltung verharrte und ins Leere starrte. Aber auf einmal fasste ich einen Entschluss. Ich stand auf, ging zur Küche, nahm das erste Messer, das mir in die Hände kam, und ging aus dem Haus. Draussen drehte sich Tommaso zu mir um und erblickte das Messer in meiner Hand. ‚Angelica, mach jetzt nichts Dummes. Ich habe nur an dein Bestes gedacht.‘ Ich hob meinen Arm und richtete das Messer gegen mich. ‚Angelica, nein!‘ Und gerade als ich zustechen wollte, erblickte ich eine Gestalt im Gebüsch. Tommaso stürzte sich auf mich. Seine Wucht warf mich auf den Boden und ich liess das Messer fallen. Ich schluchzte nur noch. Tommaso schob das Messer beiseite und liess mich dann vorsichtig los. Er stand auf und schaute mich an. ‚Angelica, du bist verletzt! Komm schnell ins Haus!‘ Ich merkte, wie ein stechender Schmerz meinen Kopf erfüllte, dann wurde plötzlich alles dunkel.  

Als ich in meinem Zimmer aufwachte, sass Tommaso neben mir. Er hielt meine Hand. ‚Der Arzt sagt, du hast dir eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Du solltest dich in den nächsten Tagen ausruhen.‘ Er sprach mit einem besorgten Unterton. Ich sah ihm an, dass er etwas sagen wollte, aber er schwieg. ‚Also gut‘, antwortete ich. Meine Stimme klang ganz heiser und ausgetrocknet. Tommaso wollte aufstehen, aber ich hielt seine Hand fest. Er schaute mich an. ‚Ich liebe ihn wirklich. Und wenn du es nicht zulassen wirst, werde ich nie wieder gesund werden.‘ Es erforderte grosse Mühe, klar zu sprechen. In Tommasos Gesicht erkannte ich einen Anflug von Zorn, aber er sagte nur: ‚Darüber werden wir reden, wenn es dir besser geht.‘ 

Er ging aus dem Zimmer und ich setzte mich auf den Bettrand. Das Fenster war einen Spalt weit geöffnet und ich hörte Tommasos zornige Stimme: „Siehst du, was du getan hast?! Sie ist tot und das ist nur deine Schuld!“ Und auf einmal erkannte ich Micheles Stimme: „Es ist deine Schuld! Und ich werde mich rächen!“ Ich erschrak und eilte auf wackligen Beinen aus dem Haus. Und was ich dort sah, war zu viel für mich. 

Michele und Tommaso kämpften mit Messern gegeneinander. Ich schrie. Michele sah mich und in diesem Moment stach Tommaso zu. ‚Nein, Michele, Nein!‘ Michele fiel zu Boden. Ich rannte zu ihm hin und stiess Tommaso weg. Michele röchelte. Und seine letzten Worte, die ich verstehen konnte, waren: ‚Du lebst, Angelica, du lebst.‘ Ich lag bei ihm auf dem Boden, schaute zu Tommaso und schrie ihn an: ‚Warum hast du das getan? Wie konntest du nur!‘ Doch Tommaso sagte nichts, sondern starrte mich nur mit einem von Zorn verzerrten Gesicht an. 

Es ging nur wenige Minuten bis die Polizei vorfuhr. Sie verhafteten Tommaso und er bekam eine 20-jährige Freiheitsstrafe. Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo ich den Verlust verarbeitete. Aber ich habe meinem Bruder nie verziehen. Und als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zog ich zur einzigen Freundin, die ich noch hatte, Aniella. Seit diesem Ereignis glaubte ich nicht mehr an die Liebe, oder an ein Happy End.“ 

Mit ihren letzten Worten blickte sie kurz zu Mario, der aber aus dem Fenster schaute. Dann blickte sie auf mich und Aniella. Im Wagen hatte sich eine bedrückende Stille ausgebreitet. Archibaldo hatte das Radio schon lange ausgeschaltet. Aniella lehnte mit ihrem goldenen Köpfchen an meine Brust. Ich legte meinen Arm um sie und hielt ihre Hand ganz fest. Meine Gedanken schweiften noch um das traurige Schicksal von Michele. Es war Mario, der schliesslich die Stille durchbrach: „Lorenzo, möchtest du uns nicht mit einem deiner tollen Gedichte aufheitern?“ 

Mir schien es, einen Anflug von Spott in seiner Stimme zu hören, aber bevor ich etwas sagen konnte, äusserte sich Archibaldo zu dem Vorschlag: „Ja, Lorenzo, lies uns doch das Gedicht vor, das du gestern gemacht hast, als ich dich vor der Dorftaverne habe kauern sehen und du nur träumend mit dem Bleistift im Mund zum Himmel hochgeschaut hast.“  Wie immer traf Archibaldos Beschreibung vollkommen zu. Die anderen grinsten ein wenig. Ich kramte also mein Notizbuch aus meiner Jacke hervor und schlug die letzte Seite auf. Nach einem kleinen Räuspern begann ich dann vorzulesen: 


Im Dorfe regt und tut sich was 

Jeder spasst und spricht und fragt 

Nach dem Abenteuer, in das 

Sich eine Freundesgruppe wagt 


Selten ist so helle Aufruhr hier 

Noch seltener so kurz vor vier 

Das Packen kurz, der Abschied gross 

Der Wagen brummt, sie fahren los 


Bei strahlend hellem Sonnenschein 

In eine neue Welt hinein 


Und nachdem ich das letzte Wort ausgesprochen hatte, spürte ich, wie die fröhliche Stimmung in uns zurückkehrte. „Wir werden eine tolle Zeit in Palermo erleben! Wisst ihr schon, was wir dort machen wollen?“, fragte Aniella. Die Vorfreude war klar aus ihrer engelhaften Stimme herauszuhören. Ihre meerblauen Augen strahlten förmlich, und ich hätte Stunden damit verbringen können, sie anzuschauen, wie sie auf meiner Brust lag, ihre zarten Hände um meine geschlungen, ihre goldenen Locken über ihrer schmalen Schulter ruhend.

Während die anderen von allerlei Dingen erzählten, die wir in Palermo machen würden, flüsterte ich meiner süssen Aniella zu: „Sobald wir in Palermo stehen, werde ich dich küssen, werde dich umarmen und dich nie mehr loslassen.“ Aniella küsste meine Hand und flüsterte mir zurück: „Ich möchte mit dir dort ein neues Leben anfangen. Ich habe bereits mit deinem Vater gesprochen und er würde es sogar begrüssen, wenn du den Bauernhof verkaufst und in Palermo einen Job suchst, mit dem du später nicht von der Hand in den Mund leben musst.“ 

Aniellas Worte überraschten mich, aber sie hatte Recht. Der Bauernhof meines Vaters kam gerade noch so über die Runden und die Konkurrenz wuchs immer weiter. Bald würde der Umsatz zu klein sein, um davon leben zu können. Aber ich liebte die frische Landluft, die mir jeden Morgen ins Gesicht wehte, und ich liebte die anstrengende, aber erfüllende Arbeit auf den Feldern oder die friedliche Ruhe, die einen umgab, wenn man Schafe hütete. Könnte Palermo besseres bieten? 

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